„Ich habe Ihnen doch schon mehrfach gesagt, das Timing ist wirklich ganz zufällig. Ich habe keine Kontrolle darüber, wann Übereinstimmungen eintreten. Entweder passieren sie oder nicht." Die Stimme, die aus dem winzigen Lautsprecher drang, schaffte es, völlig neutral zu klingen, als sei ihr beides recht. „Aber wenn diese neue Liste, die Sie mir geschickt haben, stimmt..."
„Sollte sie, ich habe schließlich genug dafür bezahlt."
dann habe ich einen jungen Mann in meinen Unterlagen, der auf
einen Ihrer Anwärter paßt."
Er trommelte mit den Fingerspitzen auf der schimmernden Mahagoni-Oberfläche seines Schreibtischs herum und wog seine Optionen ab. „Sie denken, der junge Mann willigt ein?"
„Sie willigen immer ein, wenn man sie auf die richtige Art und Weise anspricht."
„Natürlich." Er unterbrach die Stimme, ehe sie fortfahren konnte. Über die Spender wollte er nichts wissen; sie gingen ihn nichts an. „Nun gut, machen Sie ihm ein Angebot. Wenn er einwilligt, sagen Sie mir sofort Bescheid, damit die Verhandlungen mit dem Käufer beginnen können."
Als die Sonne ihr Kommen ankündigte, stand Henrys Wagen sorgfältig im Schuppen der Hütte versteckt, und auch sonst ließ von außen nichts auf Henrys Anwesenheit schließen. Zwar war es unwahrscheinlich, daß der Tag der Hütte Besucher bescheren würde, aber 450 Jahre Überlebenstraining hatten den Vampir gelehrt, daß Vorsicht und Umsicht das Wichtigste überhaupt waren. Sollte irgend jemand wirklich den schmalen Wirtschaftsweg entlanggewandert kommen, dann würde dieser Jemand vor einer nach außen hin verwaisten Hütte stehen. Henry wußte genau, daß er von Nachbarn mehr zu befürchten hatte als von irgendwelchen Vandalen; Vandalen verlassen nur selten und ungern ihre ausgetretenen Pfade.
Mit Baikonen, die frei über einer Klippe zu schweben schienen, lag das Haus zwar einsam, aber für Henry dennoch unmittelbar über einer Nahrungsquelle: Der Freund, der Henry das Haus zur Verfügung gestellt hatte, hatte sich bitter beklagt, die Feriensiedlung „Breeze" unter seinem Haus habe die Grundstückspreise der Gegend drastisch gesenkt, aber Henry persönlich begrüßte die Aussicht, die er von hier oben genoß. Jedes einzelne pastellfarbene Häuschen am Fuß der Klippe enthielt mindestens eine Mahlzeit.
„Warum sich nicht auch einmal ein paar Wochen Landleben gönnen?" fragte Henry sich grimmig und verriegelte die Balkontür.
Weil du ein Vampir bist. Weil das hier nicht dein Revier ist. Weil eine andere Vampirin in der Zwischenzeit in deinem Revier jagen geht. Weil Mike Celluci recht haben könnte ...
„Genau deswegen ..." Zähne prallten resolut aufeinander und verhinderten jedes weitere Grübeln, „genau deswegen bleibe ich jetzt, wo ich bin."
Das war ein kleinmütiger Beschluß, und Henry war längst zu erwachsen, um sich selbst zu belügen. Aber zumindest verhinderte die Entscheidung, daß sich seine Gedanken weiterhin im Kreise drehten.
Leider hatte man den begehbaren Kleiderschrank im größten der Schlafzimmer mit Zedernholz ausgeschlagen, das einen heftigen Duft verströmte. Henry wünschte, er hätte einen Stapel von Tonys frisch gewaschener Wäsche dabei, um den Duft zu überdecken, sicherte die Schranktür mit einem Kantholz und streckte sich auf dem Feldbett aus, das er zuvor im Schrank aufgeschlagen hatte. Als zusätzliche Vorsichtsmaßnahme hing ein Verdunkelungsvorhang, wie er auch am Theater verwendet wird, über der Kleiderstange und umgab das Feldbett wie ein lichtundurchlässiges Moskitonetz.
Der letzte Tag, den Henry in einem Kleiderschrank verbracht hatte, war der Tag unmittelbar nach dem Tod und dem Verschwinden von Vickis Mutter gewesen. Auch damals hatte er, wie jetzt, seinen Aufenthalt so risikoarm wie möglich gestaltet.
Plötzlich mußte Henry die Stirn runzeln. Er fragte sich, wann er überhaupt zum letzten Mal ein Risiko eingegangen war.
Er war Vampir.
Nachtwandler.
Fürst der Finsternis.
Warum kam ihm sein Leben mit einem Mal so völlig normal vor, so sehr wie das eines Ottonormalverbrauchers?
Jedes Risiko, das er in den letzten Jahren eingegangen war, ließ sich direkt zu Vicki Nelson zurückverfolgen.